PASSAGE 23°E: Theater und Theatralität vom Baltikum bis zur Ägäis

Projektskizze
PASSAGE 23°E: Theater und Theatralität vom Baltikum bis zur Ägäis

1.

Die mit den Ereignissen von 1989 eingeleiteten gesellschaftlichen Umbrüche in der Welt und vor allem in     Europa haben einen ganzen Kontinent rigoros verändert und ein „neues Europa“ begründet, das geopolitisch     und ökonomisch neu formiert wurde und wird, dessen geokulturelle Konsequenzen bisher aber kaum     nachhaltig reflektiert wurden.

Geschichte und Kultur des Kontinents als entscheidende Basis einer Neubegründung europäischer Identität(en), die Etablierung eines europäisch orientierten, differenzierten kulturellen Gedächtnisses, der Blick auf europäische Langzeitprozesse seiner Herausbildung und Weiterentwicklung – das ist der Hintergrund, vor dem das hier vorgestellte Projekt entwickelt wurde.

Das Projekt PASSAGE 23°E setzt sich zum Ziel, eine europäisch orientierte Informations- und Wissensplattform und einen lebendigen Wissensaustausch zu entwickeln, um Informationen zu aktuellen kulturellen Entwicklungsprozessen besonders auf dem Gebiet von Theater und Theatralität, ihrer nationalen wie internationalen Bedingtheit und historischen Gebundenheit zu generieren und diese einer kulturellen Öffentlichkeit vorzustellen. Das Projekt soll in enger, gleichberechtigter Kooperation des Hauptantragstellers – des Internationalen Theaterinstituts Deutschlands, Mariannenplatz 2, 10997 Berlin –  mit Partnern aus verschiedenen Staaten Mittel-, Mittelost- und Südosteuropas in einer Doppelstruktur von universitärer und theaterinstitutioneller Ebene entwickelt werden und sich an der Idee eines umfassenden demokratischen Zugangs zu den Quellen von Kunst und Kultur orientieren.

Mit dem programmatischen Projektnamen PASSAGE 23°E wird die Aufmerksamkeit auf einen Teil Europas gerichtet, der wesentlich durch den 23. Längengrad Ost zwischen Helsinki und Athen markiert wird. Entlang dieses Längengrades erreicht Europa seine größte Nord-Süd-Ausdehnung und umfasst Räume mit enormer kultureller Vielfalt, die mit Begriffen wie Osteuropa, Mittelosteuropa oder Südosteuropa beschrieben werden. Die geokulturellen Dimensionen des europäischen Entwicklungsprozesses in diesen Gebieten sind bisher kaum beachtet und betrachtet worden. Vor allem Entwicklungen von Theater und Theatralität sind über regionale und Ländergrenzen hinaus wenig bekannt .

Das Projekt PASSAGE 23°E betrachtet diese Quellen kulturellen Reichtums, ihre Andersartigkeit, ihre geschichtliche Eigen- und Einzigartigkeit und will dabei die Voraussetzungen und Möglichkeiten schaffen, dieses „andere“ Europa zu entdecken und im Interesse einer vielschichtigen europäischen Identität in ein gemeinsames Gedächtnis einzuschreiben.

2.

Für das Projekt ist eine Struktur aus drei Arbeitsfeldern vorgesehen:

A. Die kontinuierliche audiovisuelle Theaterdokumentation in den Partnerländern, verbunden mit der     Recherche, Sammlung und Generierung von kontextualisierenden Materialien
B. Der Aufbau einer Informations- und Wissensplattform zu Theater und Theatralität in den
   mittelost- und südosteuropäischen Ländern
C. Beide Arbeitsbereiche werden mit einer Diskursebene verknüpft, in welcher die mit dem Projekt     verbundenen bzw. aus ihm erwachsenden theoretischen, kulturgeschichtlichen, kulturpolitischen so wie ästhetischen und technologischen Themen und Fragestellungen in verschiedenen Formaten diskutiert, vertieft und veröffentlicht werden.


3.

Ein Phänomen wie das Theater, dessen existenzielles Wesen der Augenblick und die Vergänglichkeit sind, ist wegen seiner natürlichen Gefährdung durch das Vergessen Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit. Der  theoretischen wie praktischen Entwicklung der Theaterdokumentation unter den Bedingungen der digitalen Informationsgesellschaft soll in diesem Projekt daher besonders Rechnung getragen werden.

Durch die audiovisuelle Theaterdokumentation zeitgenössischer Theaterformen in den Partnerländern soll ein Überblick über aktuelle künstlerische und gesellschaftliche Auseinandersetzungen und damit auch ein Grundstock für die gemeinsame Informations- und Wissensplattform zum mittelost- und südosteuropäischen Theater geschaffen werden. Diese soll den Anforderungen der digitalen Informationsgesellschaft genügen und die Bewahrung des immateriellen kulturellen Erbes und dessen Sichtbarmachung garantieren.  Das audiovisuelle Material umfasst dabei nicht nur die Dokumentation von Inszenierungen, sondern auch Interviews, Theater- und Kulturreportagen u.v.m., um das Verständnis der Theaterentwicklungen durch möglichst viele Perspektiven zu gewährleisten.

In diese Informations- und Wissensplattform sollen die genannten Dokumente gleichwertig neben Daten und Materialien aus den nationalen Dokumentations- und Informationsinstitutionen einfließen. Durch Recherchen zu relevanten Fragestellungen sollen die historischen und kulturellen Kontexte der Dokumenten und Wissensbestände verdeutlicht werden. Dieses Online-Portal, das der Idee des demokratischen Zugangs zu den Quellen von Kunst und Kultur folgt, sieht die Anbindung an die großen Kulturerbe-Portale wie DDB und Europeana vor und soll durch einen vielsprachigen Zugang den Sprachenreichtum der teilnehmenden Partnerländer berücksichtigen.

Mit der Erschließung des Wissens um das mittelost- und südosteuropäische Theater in den Partnerländern  soll ein lebendiger Gedankenaustausch und Diskurs etabliert werden, der durch Begegnungen im Rahmen von gemeinsamen Werkstätten, Konferenzen und Trainingsformaten in den beteiligten wissenschaftlichen und kulturpolitischen Institutionen, sowie in thematischen Seminaren und Qualifikationsarbeiten realisiert wird. Auf diese Weise soll unter Einbindung und Mitwirkung jetziger und zukünftiger Wissenschaftler und Praktiker auf diesem Gebiet eine nachhaltige Wissensarchitektur des mittelost- und südosteuropäischen Theaters mit Blick auf zentrale theoretische und historische Kontexte entwickelt werden.   Innerhalb dieser diversen Formate sollen dabei Denkanstöße zur Auseinandersetzung mit den Begriffen „Europa“ und „europäische Kultur“ gegeben und dabei ein bisher „unbekanntes“ Europa auch als „anderes“ Europa erkennbar werden.

4.

Langfristig kann dieses Projekt als Pilotprojekt verstanden werden, aus dem ein gemeinsames Informations-     und Dokumentationszentrum für einen wesentlichen Teil der mittelost- und südosteuropäischen Kultur in     ihren aktuellen und historischen Dimensionen hervorgeht. Dieses Zentrum versteht sich als Ort der     permanenten Begegnung und Auseinandersetzung von Praktikern, Forschern, Kulturpolitikern, Journalisten,     aber auch weiteren Teilen der interessierten Öffentlichkeit. Mit dem Zentrum werden zugleich wichtige     Objekte und Prozesse des kulturellen Erbes Europas nachhaltig bewahrt.

Dieses Projekt will Voraussetzungen schaffen zur Identifizierung und zum Dialog europäischer Identität(en) aus einer ungewohnten Perspektive, der eines „anderen“ Europas. Die Öffnung des Zugangs zu praktischen und theoretischen Wissensbeständen von Theater und Theatralität in Mittelost- und Südosteuropa gibt dabei nicht nur die Möglichkeit zur Befragung der Wahrnehmung Europas in Geschichte und Gegenwart, sondern kann ferner durch den gewählten Perspektivwechsel einen Beitrag leisten in der Diskussion um das Denken eines zukünftigen Europas.

In Anbetracht der genannten Fragestellungen und Zielsetzungen sehen wir dieses Projekt als eine Herausforderung innerhalb des EU-Rahmenprogramms Horizont 2020. Ziel ist es, eine inhaltlich fundierte und gut strukturierte Antragsstellung unter gleichberechtigtem Einbezug der Bedürfnisse aller Partner zu formulieren. Eine Anschubsfinanzierung mit dem Ziel der Festigung und Ausweitung der Partnerschaften ist durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung bewilligt worden. Ein Antrag im EU-Rahmenprogramm Horizont 2020 wird für das Jahr 2017 angestrebt.